Gräset reser sig –
Hans ansikte en runsten
upprest til minne.
Das Gras richtet sich auf –
Sein Gesicht ein Runenstein
zum Gedenken errichtet.

In diesem Haiku Tomas Tranströmers, einem der letzten, die er geschrieben hat, vermischen sich Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft zu einem Panorama der Vergänglichkeit – aber auch der Erinnerung. Dabei greift der Dichter auf traditionelle japanische Motive zurück.
Tranströmer war einer der ersten schwedischen Dichter, die sich der Form des Haikus bedient haben. 1959 schrieb er neun Haikus, die jedoch erst 2001 unter dem Titel Fängelse (Gefängnis) veröffentlicht wurden. Vermehrt griff er in seinen letzten Jahren auf diese Form zurück, vor allem da der Schlaganfall, den er 1990 erlitten hatte, und die damit einhergehende Aphasie längere Gedichtformen kaum mehr erlaubten. Der Band Den stora gåtan (Das große Rätsel, 2004), aus dem obiges Haiku stammt, enthält abgesehen von ein paar kurzen Eingangsgedichten nur Haikus. Dort steht es im Zyklus VIII.
Wie alle Haikus Tranströmers entspricht dieses den traditionellen Formvorgaben für westliche Haikus: drei Verse à 5-7-5 Silben. Sogar ein Kireji, ein Trennwort, das in übersetzten und westlichen Haikus meist als Gedankenstrich wiedergegeben wird, findet sich am Ende des ersten Verses. Eher untraditionell ist dagegen der Gebrauch von Metaphern, hier also: dem Gesicht als Runenstein, der noch dazu ein Kulturdenkmal ist; in traditionellen Haikus werden strikt Naturphänomene beschrieben. Auch ein Abstraktum wie das „Gedenken“ („minne“) widerspricht der geforderten Konkretheit traditioneller Haikus.
Was wird hier geschildert? Jemand hebt sein Gesicht aus dem Gras, in dem er gelegen hat. Analog zu dieser Bewegung richtet sich das Gras selbst wieder auf. Dass er im Gras gelegen hat, wird nur deutlich durch ein Zeichen: das Zeichen der sich aufrichtenden Grashalme. Einen flüchtigen Augenblick lang bewahrt die Natur das Abbild der Gegenwart des Menschen; dann ist diese Gegenwart restlos verschwunden. Dagegen wird die Kultur, der Runenstein, bemüht, der sich doch immer am Vorbild der Natur orientiert: Das präsentische „richtet sich auf“ („reser sig“) des Grases nimmt das perfektische „errichtet“ („upprest“) des Runensteins vorweg. Die Zeitebenen vermischen sich. Das gegenwärtige Gesicht im zweiten Vers wird in einer Art Zukunftsvision als „zum Gedenken“ errichteter Runenstein imaginiert: Ein gegenwärtiger Eindruck zeitigt die Vision künftiger Vergangenheitsbewältigung. Die Gegenwart ist nur eine Fassade, der Tod – Runensteine wurden meist zum Totengedenken errichtet – steht hinter allen Erscheinungen.
Als ebendiese „Doppelbelichtung“ des Gegenwärtigen vor dem Hintergrund der Vergänglichkeit interpretiert der japanische Philosoph Keiji Nishitani ein Haiku Bashōs, das verblüffende Ähnlichkeiten zu Tranströmers Haiku aufweist. Im Buddhismus gibt es, so Nishitani, eine Meditationsmethode namens „Totenschädel-Meditation“, in der eben die Vergänglichkeit des Körpers kontempliert wird. Auch das Motiv des Schädels im Steppengras als Veranschaulichung der Vergänglichkeit wird häufig in der japanischen Kunst aufgegriffen. Eines Nachts soll sich Bashō auf einem Grasfeld niedergelegt haben. Ein Gewitter zog auf und Bashō dichtete im Anklang an das genannte Schädelmotiv: „Zuckender Blitz – / An meinem Gesicht / Ähren von Steppengras!“ Nishitani schreibt:
„In all ihrer Pracht ist die Ginza [Vergnügungsviertel in Tokio] wie eine Steppe. Sie ist wie eine doppeltbelichtete Photographie. Erst eine solche Doppelbelichtung läßt überhaupt die Aufnahme der Realität entstehen. Die wahre Wirklichkeit ist zwiefältig. In hundert Jahren wird keiner der Menschen, die jetzt auf der Ginza gehen, sei er jung oder alt, Mann oder Frau, noch am Leben sein. […] In einem solchen Gedankenblitz, im Licht eines solchen ‚geistigen Auges‘, ist, was in hundert Jahren aktuell sein wird, schon heute aktuell. In einer derartigen Doppelbelichtung kann man also die Lebenden, so wie sie sind – gesund und munter – als Tote sehen.“ *
Einen solchen „Gedankenblitz“ finden wir auch in Tranströmers Haiku. So verknüpft er ein klassisches japanisches, aber natürlich auch westliches (man denke an Hamlets Yorick-Monolog) Vergänglichkeitsmotiv, um es anschließend mit der Intimität der eigenen, skandinavischen Erinnerungskultur zu kontrastieren.
Dabei ist die besprochene Doppelbelichtungstechnik des Lebendigen als unwirklicher Vordergrund des Toten in seinem Werk kein Novum. Schon in dem Gedicht „Efter någons död“ („Nach dem Tod von jemandem“) aus dem Jahr 1966 heißt es beispielsweise: „Aber oft fühlt sich der Schatten wirklicher an als der Körper“, woraufhin eine Samurairüstung geschildert und somit auf Japan verwiesen wird.
Alles vergebens also? Nicht komplett. Immerhin richtet sich der Runenstein auf, widersetzt sich der niederzerrenden Schwerkraft. Auch Tranströmers Haiku selbst ist ja nichts anderes als ein Runenstein in Miniatur: Runen waren die erste Form der Schriftlichkeit in Skandinavien. Die Schrift, gerade die Literatur (s. Gilgamesch-Epos), ist von Anfang an ein Werkzeug gegen Vergessen und Vergänglichkeit gewesen. Auch in ihrer knappsten Ausprägung bewahrt sie das Andenken an Menschen, ihre Gesichter, ihre Identität, wenn auch nur als Zeichen – wie die menschliche Version eines Sich-Aufrichtens von Grashalmen.
*Keiji Nishitani: Was ist Religion? Übersetzt von Dora Fischer-Barnicol. Frankfurt a. M. 1982, S. 106
Ein Gedanke zu „[Interpretation] Tomas Tranströmer: (Das Gras richtet sich auf). Existentielle Doppelbelichtung“