September 1914.
Als ich noch klein war, hörte ich die Alten oft von drei großen Wunderdingen sprechen, die es in dem großen Wald, der sich östlich meiner alten Heimstatt ausbreitete, geben solle.
Erstens sollte dort eine schöne, weiße Blume wachsen, so selten, dass man ihresgleichen im ganzen Land nicht fände. Heutzutage wisse niemand mehr so richtig, wo im Wald man sie suchen sollte, aber es sei ganz sicher, dass sie dort wäre. Sie stehe in dichtem Tannengestrüpp am Rand eines dunklen Sumpfes, so viel wusste man. Und wäre jemand bloß im Stande, sie zu finden und zu den Menschen zurückzuführen, so dass sie ihren Duft spüren und den Silberschimmer über den Blättern sehen könnten, so würden sie diese Blume mehr lieben als Lilien und Rosen.
Das zweite große Wunderding, das ich in der Tiefe des Waldes verbarg, war eine Heilquelle. Sie sprudelte mit dunklem und blubberndem Wasser unter der Wurzel einer großen Birke hervor und einst hatten große Menschenmengen sich ihren Weg zu ihr gebahnt. Dort hatten die Blinden ihr Augenlicht wiedererlangt und die Lahmen hatten sich mit gesunden Gliedern von ihrem Marterlager erhoben. Es war ein unermesslicher Jammer, dass dieser Tage niemand mehr den Weg zu der Quelle finden konnte oder zu der großen Birke, die sie überschattete. Ach, es gab so viele Kranke, die nach dem gesundmachenden Wasser lechzten und wenn jemand so glücklich wäre, es zu finden, so würde er geliebt werden wie der Engel Bethesdas.
Das dritte Wunderbare, das es im Wald gab, war eine alte verlassene Kirche, die dort seit der Zeit der großen Pest stand und die ebenso unmöglich zu finden war, wie all das andere.
Sie stand tief im Wald zwischen hohen Föhren, vollkommen allein und sich selbst überlassen. Die gewaltigen Stämme der Wände waren durchgraben von Flechten, die jahrhundertelang ungestört gearbeitet hatten, ohne dass ihre gefräßigen Kiefer das mächtige Holz zu Staub zu mahlen vermocht hätten.
Sie besaß keine hochausgespannten Gewölbe, keine schönen Säulenreihen. Sie war ärmlich und klein, kaum größer als eine gewöhnliche Hütte und sie ruhte auf einem Grund aus lose verlegten Steinen. Sie war so niedrig, dass ein ausgewachsener Mann kaum seinen Arm in voller Länge ausstrecken musste, um ans Dachwerk zu reichen.
Sowohl das Schindeldach als auch die Holzwände waren mit einem Pelz von Moos bedeckt, das dichter und länger als auf jedem Felsen wucherte. Manch ein Jäger und Holzfäller war einfach an der Kirche vorbeigegangen im Glauben, es sei bloß ein Findling, ein großer Wurfstein, den ein vorzeitlicher Riese gegen die alte Kirche geschleudert hätte, die einmal in dieser Gegend gestanden haben soll.
Nie hatte sie Fenster mit bleiumrahmten Scheiben besessen; vielmehr war das Licht durch schmale Öffnungen gesickert, deren Laden verschlossen waren, seitdem ein Priester, verlassen von seiner Zuhörerschaft, dort seine letzte Messe gelesen hatte. Doch die Öffnungen waren voll großer Farnbüschel und lange Streifen von Bartflechten hingen über ihnen herab, sodass sie dem Vorbeigehenden nicht verrieten, dass dies ein Gebäude war, von Menschenhand errichtet, und nicht etwa ein Steinblock.
Rings um die Kirche stand greiser Wald. Der Boden war von hellem Moos und Preiselbeerreisig bedeckt. Die Auerhenne schlich darin umher mit ihrer Kükenschar. Die Kreuzotter sonnte sich auf dem Türstein, der ungewetzt von Fußschritten dalag seit der Zeit des Schwarzen Todes.
Keine Spur fand man nunmehr von der großen Gemeinde, die sie einmal umgeben hatte. Bloß die Kirche stand noch, um davon zu zeugen, dass in ihrer Nähe, in den Waldebenen zwischen beschattenden Bergen, einst Menschen ihr Vieh gehütet und Äcker zur Ernte bereitet hatten, dass sie dort getanzt und gespielt hatten, sich vermählt und Kinder aufgezogen, dass sie dort sicher umhergewandelt waren und geglaubt hatten, ihre Nachkommen würden bis ans Ende der Zeiten leben und dort wohnen.
All das war dahin, nur die alte Kirche stand noch und erzählte von Krankheit und Tod, von Kindern, die ohne Eltern durch verlassene Häuser geirrt waren, von Liebenden, die erschrocken voneinander fortgezogen waren, von Äckern, die kein Sämann mehr aufsuchte, von verfallenden Häusern, von Vieh, das in seinen verriegelten Ständen verhungert war, von all den Gräueln der Verödung, die sie umgeben hatten, bis dass Kiefer und Moos und Preiselbeerreisig vorgedrängt waren und ihre bergende Hülle über die Vorstöße des großen Todes gelegt hatten.
Früher konnte es an schönen Sommertagen geschehen, dass fröhliche Scharen der Jugend hinauf in den Wald zogen, um nach jenen drei Wunderdingen zu suchen, von denen die Alten so sicher zu erzählen wussten. Da wurde hinter Steinblöcken und tief in Klüften gesucht, da watete man mit ängstlichen Schritten weit hinaus ins Moor und kletterte bis zur Spitze des Hügelzugs, doch als der Abend kam und man heimwärts umkehren musste, hatte man nie etwas gefunden.
Als dann die Jungen zurück auf die Höfe kamen, waren sie äußerst missmutig und misstrauisch, doch alle Alten beteuerten, dass es die drei Wunderdinge irgendwo in der Tiefe des Waldes geben müsse. Das hatten sie in ihrer Jugend von Leuten gehört, die sehr alt und sicherlich außer Standes gewesen wären, etwas Unwahres zu erzählen.
Und noch heute kann ich nie den hügeligen Weg gehen, der in die Waldeshöhe führt, ohne zu hoffen, unversehens im Tannengestrüpp die weiße Blume ihre Blütenkrone ausschlagen zu sehen oder das gesundmachende Wasser unter einer Birkenwurzel plätschern zu hören.
Die alte Kirche dagegen wollte ich nie entdecken. Ich habe mich vor diesem alten Haus gefürchtet, wo einst so viele angsterfüllte Gebete und klagender Jammer und rufende Verzweiflung ungehört sich selbst überlassen wurden. Gewiss, dachte ich, verbirgt sie sich gut unter ihrem Moospelz, damit niemand den Fußboden betreten muss, wo ein ganzes Volk, beinahe schon hinweggerafft, auf seinen Knien gelegen hatte in nutzlosen Anrufungen.
Aber jetzt, in diesen Tagen, seit der große Krieg ausgebrochen ist, hätte ich sie gerne gefunden. Jetzt suche ich nicht mehr nach Blumen und Heilquellen, jetzt möchte ich dieses alte Gebäude wiederfinden, das Zeuge von Verödung und Untergang ganzer Gemeinden und Landstriche war.
„Verlassene Kirche!“, wollte ich zu ihr sagen. „Die Zeit der Zerstörung ist wiedergekommen. Der Tod zieht durchs Land und stapelt Leichen auf Leichen. Kinder irren wieder ohne Eltern durch verlassene Häuser. Der Sämann wird von seinen Äckern vertrieben, Häuser und Städte werden in den Staub geworfen und die Gotteshäuser hallen wider von angsterfülltem Gebet. Die Welt, die meine war, wird gerade genauso in Trümmer geschlagen wie jene, die einst deine war.
Du alte Stätte! Ich kenne keinen Ort, den es mir mit meiner Sorge besser anstände, aufzusuchen.
Ich war ein Spieler und ein Gaukler, doch aus meiner Seele strömt nunmehr weder Gaukel noch Spiel.
Meine Seele ist geworden wie du, stumm, ohne Glocken, ohne Gesang.
Meine Seele ist arm geworden und dunkel und verwildert. Sie ist voller Bilder des Entsetzens und der Schrecknis, sie ist geplündert und scheu und heimatlos, sie weiß weder Rat noch Ausweg, sie will sich verstecken und verschwinden vor aller Angesicht, so wie du es getan hast, arme alte Kirche in der Einöde.“

Selma Lagerlöf (1858-1940) bedarf wohl keiner eingehenderen Vorstellung. Die hierzulande vor allem als Autorin von Die wunderbare Reise des kleinen Nils Holgersson mit den Wildgänsen (Nils Holgerssons underbara resa genom Sverige, 1906/1907) bekannte Lagerlöf erhielt 1909 als erste Frau den Nobelpreis für Literatur und zählt sowohl in ihrem Heimatland Schweden als auch international zu den beliebtesten schwedischen AutorInnen. „Die verlassene Kirche“ („Ödekyrkan“) wurde erstmals im zweiten Band ihrer Textsammlung Troll och männsikor (Trolle und Menschen; zweiter Band 1921) veröffentlicht, die hauptsächlich Novellen, aber auch Reden, Briefe und ein Gedicht enthält. Dieser Text ist der zweite des Zyklus „Stimmungen aus den Kriegsjahren“ („Stämningar från krigsåren“).