Lífið eftir náttúruna
Þegar gengið er ofan í dalinn
kemur í ljós að hann er lagður
gervigrasi, sem bylgjast hægt í
golunni, og sólinn er raflampi
sem hitar hann upp. Áin sem
rennur eftir dalnum er líka
manngerð. Hvískur stráanna
minnir á lágt stillta útvarps-
stöð. Um kvöldið er svo
slökkt á lampanum, en
stráhvískrið heldur áfram.
Það er ekki hægt að skipta
um stöð
Das Leben nach der Natur
Wenn man hinunter ins Tal geht,
wird offenbar, dass es ausgelegt ist mit
Kunstgras, das langsam wogt in der
Brise, und die Sonne ist eine elektrische Lampe,
die es erwärmt. Der Fluss, der
durch das Tal fließt, ist auch
menschengemacht. Das Flüstern der Halme
erinnert an einen leise gestellten Radio-
sender. Am Abend wird dann
die Lampe ausgeschaltet, aber
das Flüstern der Halme geht weiter.
Man kann den Sender
nicht wechseln

Was geht verloren in einer Welt, in der es kein Fleckchen mehr gibt, das nicht vom Menschen durchdrungen ist? Diese Fragestellung bildet den Hintergrund, vor dem der isländische Dichter Gyrðir Elíasson (*1961) in seinem Gedicht „Das Leben nach der Natur“ („Lífið eftir náttúruna“) aus dem Gedichtband Hér vex enginn sítrónuviður (Hier wächst kein Zitronenholz) von 2012 eine ewig flüsternde Dystopie ausbreitet, aus der es kein Zurück mehr gibt.
Es geht um die Stellung der Natur im sogenannten „Anthropozän“. Nach einigen Wissenschaftlern befinden wir uns – seit wann, ist umstritten – nicht mehr im geologischen Zeitalter des Holozäns, sondern im Anthropozän, dem Menschenzeitalter. Bestimmte menschliche Einflüsse auf den Planeten werden als so gravierend wahrgenommen, dass der Beginn einer neuen erdgeschichtlichen Epoche gerechtfertigt scheint. Obwohl dieses Konzept noch nicht allgemein akzeptiert ist, hat der Begriff „Anthropozän“ längst Einzug in die Populärkultur gehalten. Spätestens mit dem Dokumentarfilm Anthropocene: The Human Epoch von 2018 dürfte er einer breiteren Öffentlichkeit bekannt geworden sein.
Kurz zum Formalen: Wie in den meisten Gedichten Gyrðirs spielen formale oder rhetorische Finessen keine große Rolle in „Das Leben nach der Natur“. Im Gegenteil wird eine programmatische Schlichtheit verfolgt. Die dreizehn Verse bestehen aus einfachen Sätzen, die eine künstliche Landschaft „nach der Natur“ schildern. Strophen, Reime oder ein erkennbares Metrum fehlen.
Im Anthropozän gibt es keine „unberührte Natur“, keine „Wildnis“ mehr (die übrigens eine durchaus diskutable und diskutierte Vorstellung ist – aber das würde hier zu weit führen). Gyrðirs Gedicht stellt diesen Umstand satirisch-überspitzt dar: Alles, vom Gras über Flüsse bis zur Sonne, ist künstlich und menschengemacht. „So what?“, könnte man fragen, was ist so schlimm an einer vom Menschen gezähmten und dominierten Welt? Was geht denn mit einer „unberührten Natur“ verloren?
Die Antwort ist: Sinn. Transzendenz.
Sinn gibt es nur da, wo es ein „anderes“ gibt, nicht unbedingt etwas „Höheres“, aber etwas, zu dem wir hinstreben können, das in seiner Andersartigkeit unsere Neugier und unseren Forschungsdrang weckt oder das unserer Identität schlicht Konturen verleiht: Das Eigene gibt es nur in Abgrenzung zum Fremden, Andersartigen. Ein Berg ist erhaben, weil er „vor uns da war“, weil er überwältigend anders, unverständlich, über uns hinausgehend – transzendent ist. Niemandem würde es einfallen, eine Abraumhalde zum heiligen Berg zu deklarieren. Natur kann Sinn stiften, weil sie uns vor Rätsel stellt, uns in Staunen versetzt, unsere anthropozentrischen Erklärungsmuster zurückweist und übersteigt. Der polnische Philosoph Mateusz Tokarski erklärt das in Anlehnung an eine Theorie von Glenn Deliège so:
Although in our social relations it is still the denial of meaning that we struggle with, it seems that in the Anthropocene, as far as our relations with nature go, it is precisely the lack of possibility of such denial that troubles us. When we domesticate nature, we remove from it the possibiltiy to deny our advances. […] We restrain and reshape landscapes in such a way that they will be productive in ways that we desire them to be. In such places no real possibility exists for the denial of meaning. As such, the control that we extend over nature destorys its transcendence.*
Eben dieser Verlust der Transzendenz in der Natur ist die metaphysische Gefahr des Anthropozäns: Transzendenz, das ‚Überschreiten‘ des Bekannten, setzt ein anderes voraus, in das diese Überschreitung vollzogen werden kann. Wenn es allerdings nur noch das Menschliche gibt – „Man kann den Sender / nicht wechseln“ („Ekki er hægt að skipta / um stöð“, V. 12 f.) –, bleibt nur ein beschränktes, horizontloses, geradezu solipsistisches „Leben nach der Natur“, in dem die Sonne, bei Gyrðir das Symbol des Lebens selbst, zu einer „elektrischen Lampe“ („raflampi“, V. 4) banalisiert wurde.
* Tokarski, Mateusz. 2016. Dangerous Animals and Our Search for Meaningful Relationships with Nature in the Anthropocene. In: Tønnesen, Morten, Kristin Armstrong Oma und Silver Rattasepp (Hg.), Thinking about Animals in the Age of the Anthropocene, 181–196. Lanham [u.a.]: Lexington Books, hier Seite 190.