Übersetzung Prosa

Pedro Gunnlaugur Garcia [IS]: Málleysingjarnir|Die Stummen [Auszug]

Der folgende Auszug stammt aus Pedro Gunnlaugur Garcias Debütroman Málleysingjarnir (2019). Der Roman variiert in drei auf den ersten Blick sehr unterschiedlichen Teilen das Thema der gestörten Kommunikation („Málleysingjarnir“ heißt wörtlich „Die Sprachlosen“). Im ersten Teil geht es um den verschlossenen Jungen Mihail, der bei seiner alleinstehenden Mutter im Post-Ceaușescu-Rumänien aufwächst. Die folgende Passage handelt jedoch nicht von Mihail, sondern von dem zweiten Mann von Mihails Oma Raluca, Ion mit Namen, der einen sehr ungewöhnlichen Mittelnamen hat …

Als Raluca einmal zu Hause in Târgoviște aufräumte, fand sie einige Papiere aus dem Besitz ihres Mannes (sie öffnete eine Truhe, die sie schon immer mal öffnen wollte) und erblickte darauf seinen Mittelnamen, von dem er ihr nie erzählt hatte. Als sie ihm die Papiere unter die Nase hielt und zu erfahren verlangte, warum er einen ausländischen Mittelnamen hatte, geriet er in Zorn und schlug alles kurz und klein in der Wohnung.

Ion Zamfirescu war ein Säufer und deutschstämmig. Ersteres war niemandem ein Geheimnis, aber Letzteres erzählte er keiner Menschenseele. Sein Mittelname lautete „Platzpatrone“ und dafür schämte er sich sehr. Erst mit sechzehn fiel es ihm ein, seine Eltern nach diesem seltsamen Namen zu fragen. Seine Eltern waren ebensolche Trunken- und Witzbolde, wie er es einmal werden sollte. „Wir stammen von Deutschen ab, lieber Sohn“, sagte seine Mutter. „Dein Opa war Deutscher.“

Der junge Ion bildete sich selbstverständlich gleich ein, er gehöre zu den Hohenzollern und dass er auf den Königsthron steigen würde, sobald die Monarchie wieder eingeführt war. Doch sein Vater machte diesen Träumen ein jähes Ende. „Also dein Opa, da brauchst du gar keine Ideen zu bekommen, du Trottel, das war kein Siebenbürger Sachse, das war ein Jammerlappen genau wie alle Leute aus der Familie deiner Mutter. Das war nicht mal sein richtiger Name, sein richtiger Name war … wie war der noch?“ Ions Mutter grinste und sie grinste nie, außer wenn ihr Mann sie erniedrigte, was oft geschah, weshalb sie als heitere Frau galt. „Du weißt es doch, mein Lieber. Er hieß ‚Schaefer‘.“ Ihr Mann schlug sich auf die Stirn und tat, als sei er bass erstaunt, einen solch unvergesslichen Namen vergessen zu haben. „Ja richtig. Schaefer! Wie der Hund, wie der Hund.“ Seine Frau lächelte. „Du wirst langsam vergesslich. Vielleicht sollte man dir den Branntwein wegnehmen, mein Guter.“ Der Alte runzelte die Stirn. „Pass auf, was du sagst. Den Branntwein brauche ich nämlich, um unserem Sohn hier von deinem Herrn Vater zu berichten. Er muss doch erfahren, wie er zu diesem schönen Namen gekommen ist. Was sagst du, mein Goldstück, haben deine Eltern vergessen, dich über deine Herkunft aufzuklären?“

Ion nickte ernst mit den lodernden Augen der Jugend. „Diese gezierte Fratze steht dir überhaupt nicht“, fuhr sein Vater fort. „Du denkst wohl, du hättest das von deinem Opa, den du noch nie gesehen hast? Dein Opa war ein Jammerlappen, Soldat im Ersten Weltkrieg, oder – Soldat? Ach was. Vielmehr hat er seine Zeit damit verbracht … seine Landsleute hinzurichten! Glaubte er zumindest. Wenn man Gefangene oder Desarteure hinrichtete, wurde immer ein Gewehr mit einer Platzpatrone geladen, verstehst du, damit die Soldaten sich mit dem Gedanken trösten konnten, dass sie eventuell keine Schuld am Tod eines Gefangenen trugen. Und dein Opa hat alle Patronen gesammelt, die er verschossen hat, und Jahre, Jahrzehnte später, lange nachdem er deine Mutter gekriegt hatte, erfuhr er, dass es möglich war, festzustellen, ob eine Patrone geladen gewesen war oder nicht. Und zur maßlosen Verwunderung des alten Mannes erwiesen sich alle als Platzpatronen, jede einzelne, einhundertzwanzig Stück. Alles – Platzpatronen.“

Ion schwieg und blickte verdrießlich auf seine Schuhe, während sein Vater die Geschichte zu Ende erzählte. „Und lieber Sohn, du darfst nicht wütend werden. Sieh doch die lustige Seite daran. Das mache ich. Das Leben ist ein zu jämmerliches Jammertal, als dass man auch noch wegen so einem Fliegendreck in Tränen ausbrechen müsste. Aber wie gesagt: Als du getauft wurdest, hatte ich schon ein bisschen was intus, um … um das Wunder des Lebens zu feiern, haha, und der Dreckspriester hat mich auf einmal gefragt, wie der Junge heißen sollte – und ich hätte schwören können, dass du ein Mädchen warst –, entschuldige, lieber Sohn, aber ich hatte vollkommen vergessen, wie du heißen solltest, also gut, dachte ich mir, und ich dachte: Wie wär’s mit ‚Ion‘, das ist der Name, der manchmal deiner Mutter entfährt, wenn ich sie ficke, obwohl ich doch Teodor heiße, du weißt doch, wie dein alter Vater heißt, Sohnemann … Und dann der Familienname deiner Mutter, an den ich mich beim besten Willen nicht erinnern konnte. Ich versuchte wie wahnsinnig, mich zu erinnern, wie ihr Vater hieß. Ein widerlicher Mensch mit kaputten Zähnen, ich zweifle tatsächlich, ob er wirklich Deutscher war, dafür hatte er viel zu dunkle Haut und viel zu kurze Beine, aber da erinnerte ich mich (Halleluja!) an die Geschichte mit den Platzpatronen, dein Opa hatte es gerade herausgefunden und war am Boden zerstört, ein gebrochener Mann, das Einzige, was diesen Schlappschwanz aufheiterte, war deine Geburt, sein erstes Enkelkind, und er konnte jeden Moment an Arschkrebs krepieren und ich schaute ihm direkt in die Augen und sagte zum Priester: Der Junge soll Ion – Platzpatrone – Zamfirescu heißen. Ein anständiger Name, Junge, deine Mutter hat einen Freudenschrei ausgestoßen, als sie ihn zum ersten Mal hörte und ich bin mir sicher, eine Träne im Augenwinkel deines Opas gesehen zu haben. Ach ja, der gute Alte. Ist dann wenig später tot umgefallen, oder was heißt ‚fallen‘, wir haben ihn tot auf seinem Stuhl gefunden.“


Pedro Gunnlaugur Garcia wurde 1983 in Lissabon als Sohn eines portugiesischen Vaters und einer isländischen Mutter geboren. Mit fünf Jahren zog er nach Island. Er hat Soziologie und Kulturvermittlung studiert. 2018 erhielt er erstmals öffentliche Anerkennung im Zusammenhang mit der Preisverleihung des Poesiepreises „Ljóðstafur Jóns úr Vör“ und 2019 erschien sein Debütroman Málleysingjarnir (Die Tiere bzw. Die Stummen), der sehr positive Kritiken erhielt.

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