
Marion Poschmanns 2021 im Verbrecher Verlag erschienenes Essay Laubwerk versucht das Phänomen Klimawandel anhand des drohenden Verlusts der traditionellen deutschen Stadtbäume greifbar zu machen und gegen diesen Verlust zu mobilisieren. Das Essay erhielt den mit 35.000 Euro dotierten WORTMELDUNGEN-Literaturpreis für „kritische Kurzprosa“.
Neben dem Essay finden sich auch ein Vorwort, ein Gespräch mit der Autorin und die Laudatio im Buch – und hier liegt auch schon mein größtes Problem: Die Kontexte erdrücken gewissermaßen den Text. Denn auch wenn bspw. das Gespräch mit Poschmann sehr spannend ist, sind die Kontexte zusammen genauso lang wie das Essay und drängen einem dessen Ausnahmestatus geradezu auf, kreieren eine Erwartungshaltung, die unerfüllt bleiben muss; 30 Seiten Kurzprosa für 35.000 Euro sind einfach zu unverhältnismäßig. Das aber nur außen vor; schließlich erscheint das Essay in einer so konzipierten Reihe und dafür können der Text und Poschmann selbst ja nichts.
Laubwerk ist, wie typisch für Poschmanns Essays, in kurze, mit Überschriften versehene Sinnabschnitte eingeteilt. Diese sind lose verbunden und erhellen hintergründig, intelligent und eloquent Komplexe um das Thema Bäume und Laub, etwa die vernachlässigte Wertschätzung für das Phänomen der Laubfärbung in Deutschland oder eine kurze Kulturgeschichte des Blattwerks in der Ornamentik. Diese Fäden laufen in einer Kritik der Indolenz zusammen, mit der man offiziell den Verlust der einzigartigen Flora Deutschlands an den Klimawandel hinnimmt:
„Wer vorgibt, sich an den Klimawandel anzupassen, verschafft sich ein dynamisches, zeitgenössisches Image. Mitnichten aber stellt sich die Stadtplanung auf den Klimawandel ein, mitnichten werden Versuche unternommen, Städte so zu bauen, daß die alten Stadtbäume weiterhin existieren können.“ (29)
Das größte Verdienst dieses Essays ist das neue Bewusstsein, das es für Alltäglichkeiten wie Stadtbäume weckt. Denn Laubwerk ist keineswegs ein agitatorischer Text, wie es der Preis für „kritische Kurzprosa“ oder die Kontexte suggerieren mögen. Vielmehr durchzieht Poschmanns Prosa bei allen ironischen Spitzen und offenen Anklagen eine Melancholie, Solastalgie, ein im Gegensatz zur rückwärtsgewandten Nostalgie gegenwarts- oder zukunftsbezogener Schmerz über einen Verlust. Dazu tragen auch die Zeichnungen von Laub und Bäumen aus Meyers Konversationslexikon von 1905 bei, die das gesamte Buch schmücken: Striche, Schraffuren, Kunstnatur aus einer längst vergangenen Zeit, die teils ironisch, aber eben auch ein Stück weit wehmütig die Künstlichkeit und (drohende) Obsoleszenz der deutschen Baumflora beschwören.
Stellenweise bleibt mir Laubwerk zu vage, zu sprachmystisch. Bedenklich etwa dieser Abschnitt:
„Die Rede über Bäume spiegelt in der Regel besonders deutlich das grundsätzliche Problem der Benennung von Welt. Der Baum mit seinem wogenden Laub bleibt stets ein Geheimnis, er bleibt das Unerkennbare und Unbeschreibliche, der Gegenstand, an dem die Sprache scheitert.“ (37)
Bedenklich auch die Aufforderung zur Wiederromantisierung der Natur im Angesicht des Klimawandels. Bedenklich jedoch im doppelten Sinne des Wortes: Zweifelhaft, aber bedenkenswert. Einerseits stehe ich persönlich voll hinter dieser Forderung, andererseits sehe ich nicht, wie das im Allgemeinen zu bewerkstelligen oder auch nur hilfreich wäre. Selbst wenn mich Laubwerk (noch) nicht nachhaltig davon überzeugt hat, dass die Kunst einen sinnvollen Beitrag gegen den Klimawandel leisten kann, hat es mich doch zumindest zum Nachdenken über diesen und ähnliche Punkte angestachelt. Also genau das, was ein Essay bestenfalls tun sollte. Die Laubfärbung werde ich dieses Jahr definitiv mit anderen Augen verfolgen.