Interpretation

[Interpretation] Paul Zech: Uralter Baum. Meta ta physika

Uralter Baum

Ich, uralter Baum,
kann Dir nur Ausruhn sein,
ruhe, mein Knabe.
Im Traum
fallen Dir alle Gestirne ein,
die ich verloren habe.

Wenn sie im Laub
silbern gerinnen,
lass mir den Staub
und die verwunschenen Spinnen.

Bald bist Du, im Raum
über den Dingen,
der Baum,
den die Gestirne besingen …
ich bin nur sein Traum.

Iwan Schischkin: Kiefer. Merikul (1894)

Wenn überhaupt ist Paul Zech den meisten heutigen Lesern wahrscheinlich durch seine Beiträge in der Anthologie Menschheitsdämmerung als Expressionist und Arbeiterdichter bekannt. Dabei liegt der Fokus seines Gesamtwerks ganz woanders. So stellt der Herausgeber einer Gedichtauswahl Zechs von 1990, Henry A. Smith, klar: „Die Betrachtung der ganzen lyrischen Produktion lässt mich behaupten, daß  Zech vor allem als einer der bedeutendsten Vertreter der deutschen Naturlyrik dieses Jahrhunderts anzusehen ist. Neben Oskar Loerke kann er sogar als frühster Vorläufer der sogenannten ‚natur-magischen Schule‘ gelten […].“ In „Uralter Baum“, zuerst erwähnt 1928, zeigt sich dieses Urteil jedenfalls auf den ersten Blick vollkommen bestätigt.

Formal gliedert sich das Gedicht in drei Strophen zu jeweils sechs, vier und fünf Versen. Das Metrum ist grundsätzlich daktylisch, variiert – genau wie die Zahl Verse pro Strophe, das Reimschema und die Hebungszahl – aber durchgängig. Schon rein formal imitieren die Verse damit eine Ordnung (daktylisches Grundmuster, Reime), nicht jedoch die starre Ordnung eines expliziten Kunstprodukts (wie es ein streng alternierendes Metrum oder ein gleichartiger Strophenbau täte), sondern vielmehr die fließende, sich stets abwandelnde Ordnung der Natur. Hinter Zechs klingenden, verführerisch schlichten Versen verbirgt sich dabei eine ungeahnte Komplexität und kulturhistorische Tiefe.

Bleiben wir kurz bei den Reimen. Das Reimschema lautet a-b-c-a-b-c // d-e-d-e // a-f-a-f-a. Der Reim „-aum“ kehrt also in der letzten Strophe zurück und das Gedicht endet auf demselben Reim, auf dem es beginnt. Auch hier kann man bereits formal eine Anspielung auf das Zyklische der natürlichen Ordnung erkennen. Die letzte Strophe spiegelt die erste sogar beinahe mit ihrem einhebigen Mittelpunkt („Im Traum“, V. 4; „der Baum“, V. 13). Aber nicht  nur der a-Reim kehrt wieder. Ein Teil der suggestiven Kraft des Gedichts beim ersten Lesen liegt in den Assonanzen des b-, e- und f-Reims: „-ein“, „-innen“ und „-ingen“. Der Klang entwickelt sich, evolviert sozusagen unmerklich über die Strophen hinweg, stiftet dadurch gleichzeitig eine Verbindung zwischen ihnen. Zusammen mit dem wiederkehrenden a-Reim, zahlreichen Alliterationen („ich – uralter“, V. 1; „Staub – verwunschenen – Spinnen“, V. 9 f.; „Bald – bist – Baum – besingen“, V. 11 ff.), Wiederholungen („Ausruhn – ruhe“, V. 2 f.) und anderen rhetorischen Figuren evozieren die angesprochenen Assonanzen den Eindruck der Einheit des Ganzen, der Verbundenheit von allem mit allem. Und  genau darum geht es schließlich in dem Gedicht. Gewissermaßen.

Denn: Worum geht es eigentlich? Ein „uralter Baum“ spricht zu einem „Knaben“ (wobei im Vergleich zu einem uralten Baum auch ein Erwachsener als „Knabe“ gelten kann), der sich vielleicht an seinen Stamm gelegt hat und wiegt ihn in den Schlaf („ruhe, mein Knabe“). Der Baum prophezeit ihm schließlich, dass er, der Knabe, „im Raum über den Dingen“ (V. 11 f.) selbst ein Baum sein wird, „den die Gestirne besingen“ (V. 14) und dass er, der uralte Baum, nur der Traum dieses metaphysischen Baums ist. Der Wohlklang der Verse täuscht beim ersten Lesen über die erheblichen inhaltlichen Unklarheiten hinweg. Was ist bspw. mit den „Gestirnen“ gemeint, die der Baum verloren hat? Was soll die zweite Strophe bedeuten? Und wie ist überhaupt das Verhältnis von Baum und „Knabe“? Schließlich enthüllt sich der uralte Baum im letzten Vers bloß als Traum desselben, obwohl er ihn am Anfang doch erst in einen solchen einzulullen scheint.

Bevor wir das alles zu klären versuchen, zunächst ein poetischer Exkurs. „Uralter Baum“ spielt nämlich mehr oder weniger eindeutig auf eines der berühmtesten Gedichte in deutscher Sprache an: Goethes „Wanderers Nachtlied“. Nicht nur die Betonung auf „Ruhe“ („ruhe, mein Knabe“ – „ruhest du auch“) oder der Beginn der letzten Strophe („Bald bist du […]“ – „warte nur, balde“), sondern schon der Bau des Gedichts, die kurzen Verse mit den eingestreuten, erdenden Einhebern („im Traum“, „der Baum“; bei Goehte: „ist Ruh“; „spürest du“ etc.) sind deutliche Reminiszenzen. Es gibt allerdings ebenso deutliche Unterschiede. Während Goethes Naturbild auf Tod und Finalität hinausläuft („warte nur, balde / ruhest du auch“), betont Zech die Transitionalität und den Kreislauf der Natur („Ausruhn“; „Bald bist du […] der Baum“). Hier muss man jedoch genau hinsehen. Mit dem Einschub „im Raum / über den Dingen“, also im Metaphysischen, kehrt sich Zech von der anschaulichen Physis ab und transzendiert den Kreislauf der Natur, verlegt die Wiedergeburt des Knaben als Baum auf eine höhere Ebene, die eben nicht mehr bloß Natur ist. „Uralter Baum“ ist nur scheinbar ein Naturgedicht. Oder besser: Es ist ein Meta-Naturgedicht.

Der uralte Baum tritt als Mittler auf. Er führt den „Knaben“ in die tieferen Schichten des Naturgeheimnisses ein. Schematisch könnte man das so darstellen:

MenschBaumGeheimnis
Jugend („Knabe“)uraltEwigkeit (Metaphysik, „Gestirne“)
Realität/PhysisTraum/VisionTranszendenz/Metaphysik
LebenAlter/SterbenJenseits
Aktivität„Ausruhn“Ewige Ruhe/Fixsternhimmel
Unten/ErdeMitte („Staub“, aber auch „Laub“)Oben/Himmel („Gestirne“, „Raum über den Dingen“)

Besonders ein Wort in diesem Schema muss näher erläutert werden: der Fixsternhimmel. Nach einer antiken Vorstellung war die Erde der Mittelpunkt des Universums. Um die Erde schichteten sich acht Sphären, sieben kreisende Planetensphären („Gestirne“) und eine unbewegliche Sphäre mit den Fixsternen, der Fixsternhimmel. Während der Fixsternhimmel einen Ruhepol gegenüber den Wandlungen der Natur darstellt, wird mit den singenden Gestirnen auf die Planetensphären angespielt. Die Planetensphären verursachten nach den Pythagoreern nämlich durch ihre Bewegung eine harmonische Musik, die sogenannte Sphärenmusik oder Sphärenharmonie. Genau darauf wird mit in der letzten Strophe angespielt: „Bald bist Du, im Raum / über den Dingen, / der Baum, / den die Gestirne besingen“. Der Knabe träumt, vermittelt durch den uralten Baum, ein uraltes Bild der Allharmonie, eines harmonischen Kosmos, in dessen Mitte er ruht.

Flammarions Holzstich, zuerst erschienen in L’atmosphère (1888)

Interessant ist dabei der Umstand, dass die sieben- oder achtsphärige kosmische Musik schon in der Antike mehrfach mit einer sieben- oder achtsaitigen Lyra verglichen wurde, also dem Instrument, nach dem die Lyrik benannt ist. Zech könnte sogar durch einen anderen Lyriker mit diesem Konzept in Verbindung gekommen sein: Rainer Maria Rilke, einem seiner großen Vorbilder (Zech hat allein zwei Bücher über Rilke geschrieben). In Rilkes Gedicht „Musik“ von 1925 heißt es beispielsweise:

[…] Schlag an die Erde: sie klingt stumpf und erden,
gedämpft und eingehüllt von unsern Zwecken.
Schlag an den Stern: er wird sich dir entdecken!

Schlag an den Stern: die unsichtbaren Zahlen
erfüllen sich. Vermögen der Atome
vermehren sich im Raume. Töne strahlen. […]

Erdenschwere VS sphärische Entrückung. Schon in der Antike wurde diskutiert, warum wir die Sphärenharmonie normalerweise nicht hören können; populär war die Erklärung, dass wir uns hienieden an sie gewöhnt haben (wie ein Schmied den Lärm der Schmiede nach einer Zeit nicht mehr wahrnimmt, nehmen wir die Sphärenmusik nicht mehr war) und nur außergewöhnliche Menschen wie Pythagoras sie hören konnten. In der Moderne geben Gedichte noch einen Eindruck von diesen höheren Sphären jenseits des stumpfen, erdenen Alltags mit seinen niederzerrenden Zwecken.

Die oben angesprochene Verbindung von Lyrik und Sphärenmusik findet sich auch in Zechs Gedicht. Erstens kann man vor diesem Hintergrund die „Gestirne“, die der uralte Baum wie etwa Blätter oder Früchte „verloren hat“ (V.5 f.), als Gedichte (Saiten der Lyra) deuten, die dem Angesprochenen wieder einfallen. Darüber hinaus ist gleich der erste Vers doppeldeutig. „Uralter Baum“ ist nämlich nicht nur ein uralter Baum, sondern auch der Titel des Gedichts. Insofern kann man den ersten Vers so lesen, dass das Gedicht selbst den Knaben anspricht: „Ich, das Gedicht ‚Uralter Baum‘, kann dir nur Ausruhn sein […]“. Die Lyrik erhält, genau wie die Natur, eine Mittlerrolle zwischen Mensch und kosmischer Harmonie, Physis und Metaphysis. Die Unklarheit der Verse steht hinter ihrem Wohlklang zurück und verweist eben damit auf das eigentliche, ursprüngliche Wesen der Lyrik: Musik und Klang. „Uralter Baum“ will weniger etwas aussagen, als vielmehr auf etwas Unnennbares verweisen. Genau das ist die tiefere Funktion der Lyrik bei den Romantikern, bei Baudelaire und den Symbolisten, in deren Tradition Zech steht.

Gerade der letzte Vers resümiert dieses „Verweisen auf das Unnennbare“ noch einmal. Der „uralte Baum“, sei es als Stellvertreter der Natur, sei es als Stellvertreter der Lyrik, offenbart sich als Traum eines Wesens, das noch nicht ist, aber doch indirekt in Verbindung mit dem „Knaben“, dem Angesprochenen, steht. Der Angesprochene nämlich wird zu einem Baum werden, der dann einen Traum träumt, in dem er als Baum sich selbst seine Transformation prophezeit. Direkt ist ihm diese Einsicht nicht zugänglich. Nur mittelbar, via verwickelte Traumpfade „über den Dingen“, kann er eine Ahnung der kosmischen Harmonie erlangen, deren Quell letztlich trotz allem in ihm selbst liegt.

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