Interpretation

[Interpretation] Thomas Kling: POSTHOLEN, ERSCHWERT. Versuch einer Dekomprimierung

POSTHOLEN, ERSCHWERT

unter kalten epaulettn, um-
stiemtn fußes; vorgestemmt; getriebne
aufgesprungne kreisel, fußhoch die
ruhigere kreisbeschreibung, dach- und
straßnfegung angesagt; frontale durch
die luft frontale blasebälge, wilde jagdhund
hingejagte preschung, leichtes tosn in der
stimme hochofn!, spürbares brikett! ein
solches postgehol doch unverhofft; arktische
levitation, kein kinderspiel; gekappter
blick, ausweidn des gewilderten gesichts, fürs
erste nas und zeh geopfert, dies flämmchn-
bekritzelte gesichtsterrain, wies ein anfährt!
wangenbrikett das erst zerfallen muß

Einmal tief durchatmen und ab in den hermetischen Kompressor. Worum geht es in POSTHOLEN, ERSCHWERT? Es geht um Sprachverdichtung, genauer gesagt die Verdichtung mehrerer Vorgänge und Bildkomplexe: Sex, Krieg, Jagd, Dichtung und das veritable Postholen bei einem arktischen Schneesturm.

Das Gedicht entstammt dem Zyklus „böhmische drugs“, dem letzten aus Klings 1989 erschienenen Gedichtband geschmacksverstärker. Der Zyklus bewegt sich vorrangig in arktischen, spezifischer: finnischen Gefilden. Kling hat sich in den 80ern eine Zeit lang in Vaasa, Finnland aufgehalten und der Zyklus „böhmische drugs“ ist das kohärenteste poetische Ergebnis dieses Aufenthalts in seinem Werk.

Schon der Titel ist ein Paradebeispiel für Verdichtung. Einerseits werden die äußersten Umstände des Beschriebenen angegeben: Der Sprecher holt Post („postgehol“, V. 9) unter den erschwerten Bedingungen eines arktischen Stiemwetters = Schneesturms („umstiemtn fußes“, V. 1 f.). Post ist „Botenstoff“, der Stoff des Botengottes Hermes, „die Sprache selbst“, wie Kling es in seinem Hermes-Essay aus dem Essayband Itinerar bezeichnet. Hermes, der Wegegott, Beschützer der Reisenden und qua Botenfunktion auch Herr der Kommunikation und Sprache, ist der Genius des Zyklus „böhmische drugs“. Immer wieder taucht er zwischen den Zeilen auf, genau wie das Thema der erschwerten Kommunikation (in der Fremde).

In „POSTHOLEN“ verbirgt sich „Pusteholen“, das Atemholen, die Voraussetzung fürs Sprechen. Gerade das gesprochene Wort und dessen Inszenierung nimmt in der Dichtung des „Sprachinstallateurs“ Kling eine prominente Rolle ein. Rhetorisch wird das „erschwerte“ Vorwärtsstapfen und -stemmen (V. 2), das immer neue Ansetzen im Schneesturm durch die vielen Wiederholungen („getriebne / aufgesprungne“, V. 2f.; „fußes“, V. 2 – „fußhoch“, V. 3: „frontale, durch / die luft frontale“, V. 5f.) und Wortvariationen („umstiemtn“, V. 1f. – „vorgestemmt“, V. 2 ; „kreisel“ V. 3 – „kreis[…]“ V. 4; „jagdhund“, V. 6 – „hingejagte“, V. 7) abgebildet.  Kalte „epaulettn“ (V. 1), Schnee auf den Schultern, erschweren das Fortkommen zusätzlich.

Die „epaulettn“ eröffnen eine Reihe von Wörtern und Wendungen mit mehr oder weniger militärischen Nuancen, die den Kampf mit dem Sturm verdeutlichen: die ‚Front‘ in „frontale“ (V. 5/6), das ‚Opfern‘ von Körperteilen (V. 13) oder das „[…]terrain“ (V. 14). Dichten ist also „kein kinderspiel“ (V. 10).

Verbunden mit diesen martialischen Beschwörungen ist der Jagd-Komplex: „blasebälge, wilde jagdhund / hingejagte preschung“ (V. 6 f.) sowie „ausweidn des gewilderten gesichts“ (V. 11). Der Balg, also die Tierhaut, erinnert an Felleisen, Taschen, in denen früher Post transportiert wurde (auch wenn „Felleisen“ etymologisch weder mit „Fell“ noch mit „Eisen“ irgendetwas zu tun hat). Der Wortteil „blase-“ präfiguriert die Inspiration, die „Einblasung“ der dichterischen Idee, der Vision („gesicht“ in V. 11 ist in veralteter Bedeutung als „Vision“, „Erscheinung“ zu lesen), die dann „ausgeweidet“, dichterisch verwertet wird. Dichtung als Schinderhandwerk. Genau so beschreibt Kling seine Methodik in einem späteren Interview:

„Die Arbeit mit dem Sprachkörper ist sein [des Dichters] Handwerk. Die Haut abziehen, der Sprache das Fell über die Ohren ziehen, um zu sehen: was sich dahinter verberge? Sprache natürlich wieder, Sprachschichten, Sprachgeschichte. So jedenfalls habe ich immer einen bedeutenden Teil meines Berufs verstanden und ausgeübt.“ (Stuttgarter Zeitung vom 09.11.2002)

Die „wilden jagdhunde“ (V. 6) verweisen auf die Wilde Jagd, ein durch die Lüfte jagendes Toten- oder Geisterheer im Volksglauben, das vor allem in der kalten Jahreszeit sein Unwesen trieb. Interessant ist in diesem Zusammenhang nicht nur das Kommunikationsverbot der Geister mit den Lebenden oder die Verbrennungen, die ein Sterblicher erlitt, wenn er einen Toten anfasste („dies flämmnchn- / bekritzelte gesichtsterrain“, V. 14), sondern auch die Verbindung zu Odin, der oft als Anführer des Heeres galt. Odin ist u. a. Gott des Krieges, aber auch der Dichtung und Magie, der sich für das magische Runenwissen selbst als Opfer dargebracht hat („fürs / erste nas und zeh geopfert“, V. 12 f.). Er ist zudem die nordische Entsprechung von Hermes-Merkur. Die Wochentage wurden z. B. nach römischem Vorbild benannt: Der Mittwoch, lateinisch „dies mercurii“, der Tag des Merkur, wurde bei den Germanen zum „Tag des Wotan/Odin“, wovon heute noch englisch „wednesday“ (Woden’s Day) oder schwedisch „onsdag“ (Odens dag) zeugen.

Apropos Mittwoch: Wir nähern uns dem Zentrum des Gedichts, wo unvorstellbare Druckverhältnisse herrschen. Die „preschung“ (V. 6) ist nicht nur etymologisch verwandt mit „Pirsch“, sondern erinnert lautlich auch an „Pressung“, Verdichtung. Briketts („spürbares brikett!“, V. 8; „wangenbrikett“, V. 15) sind Presskohle, etymologisch abgeleitet von Französisch ‚briquette‘, ‚Ziegelsteinchen‘. Hier versteckt sich abermals Hermes, dessen Name wahrscheinlich von herma („Felsen“, „Stein“) abgeleitet ist. Hermen waren ursprünglich Steinhaufen am Wegesrand. Die dichterische Idee wird im „hochofn“ der „stimme“ (V. 8) – bezeichnenderweise gibt es hier keine trennenden Satzzeichen zwischen den Worten –, im individuellen Sprechen also, geschmolzen, verdichtet, gepresst – und muss später wieder (vom Interpreten) dekomprimiert werden – „zerfallen“ (V. 15).

Auffällig ist die Häufung des Vokals „o“ in dieser zentralen Passage: „tosn“ (V. 7), „hochofn“ (V. 8), „solches postgehol doch unverhofft“ (V. 9). Damit wird – unter anderem (s. u.) – die Exaltation des Einfalls veranschaulicht, wie sie bspw. beim Pfingstwunder über die Apostel, die „Sendboten“ kommt (vgl. Apg 2, 1-4). Hier wie dort ist es eine unerwartete Eingebung („Und es geschah plötzlich ein Brausen vom Himmel […], Apg 2, 2; „unverhofft“; V. 9), die den Empfänger erreicht, hier wie dort spielt das Feuer eine wichtige Rolle („Und es erschienen ihnen Zungen zerteilt, wie von Feuer; […]“, Apg 2, 3; „hochofn!“, „brikett“, V. 9; „flämmchen- / bekrtitzelte“. V. 13f.), hier wie dort verleiht die Eingebung dem Empfänger ungeahnte sprachliche Fähigkeiten („[U]nd sie wurden alle erfüllt von dem heiligen Geist und fingen an, zu predigen in andern Sprachen, […]“, Apg 2, 4; „leichtes tosn in der / stimme“, V. 7f.).

„Und wo ist der Sex?“, stöhnt jetzt der eingangs angeteaste Leser. Kein Bangen. Das Beste zum Schluss. Hier soll keiner zu kurz kommen. Die Exaltationsinterjektion „o“, die oben für den Inspirationsmoment reklamiert wurde,  stellt gleichzeitig den Orgasmus dar. Platziert am „Höhepunkt“ in der Mitte des Gedichts, scharen sich darum fragmentierte Körperwahrnehmungen („fuß[]“, V. 2; „gesicht[]“, V. 11, 14; „nas und zeh“, V. 13; „wange[]“, V. 15) und sexuelle Andeutungen  („getriebne“, V. 2; „ruhigere kreisbeschreibung“, V. 4; „blasebälge“, V. 6). Der abkühlende Schwebezustand nach dem Orgasmus (im Gegensatz zum „erschwerten“ Pusteholen, dem schweren Atmen davor) wäre durch die  „arktische levitation“ (V. 9 f.; lateinisch ‚levis‘, leicht) bezeichnet. Auch das natürlich „kein kinderspiel“, sondern im Gegenteil ein Spiel der Erwachsenen. Dann jedoch: „gekappter / blick“ (V. 10 f.), eine, betont durch den Zeilensprung,  Durchtrennung der unmittelbaren körperlichen Kommunikation. Vielleicht kommt es sogar zum Streit („wies ein anfährt!“, V. 13). Eine ähnliche Situation mit ähnlichem Aufbau schildert schon das Gedicht „aber anette“ aus Klings erstem Band erprobung herzstärkender mittel. Erotik und (gestörte) Kommunikation werden immer wieder verschränkt, auch in „böhmische drugs“. Hier presst der Dichter diese beiden Themen in ein hermetisches Brikett zusammen mit zahlreichen anderen botenstofflichen Elementen. Unzip complete.

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