Interpretation

[Interpretation] Jan Wagner: rübezahl. Klangheimlich unterwegs im Riesengebirge

rübezahl

bäume um bäume, und dahinter ruhig
der wald, der mit den augen seiner tiere
sieht. nur ein paar bäche infiltrieren
die dämmerung, ein dünner pfeifenrauch

von nebel steigt auf. jenseits von schreiberhau
und krummhübel: im geäst
noch immer die tropfen des gewitterschau-
ers, jeder mit dem winzigen insekt

der sonne darin, als sich die schatten
der berge strecken, du endlich die vertrauten
silhouetten der getreidesilos,

das dorf erkennst: die schädelstätte
am rand des trüben ackers nur ein haufen
von zuckerrüben, ungeheuer, zahllos.

Jan Wagners Gedicht „rübezahl“ aus dem Band Australien (2010) handelt von dem Verhältnis zwischen Zivilisation und Natur, Logos und Mythos bzw. der Zwielichtigkeit des Ersteren im Licht des Letzteren.

Formal ist das Gedicht ein Sonett, meist fünfhebig, schwankend zwischen Trochäus und Jambus; auf die Ausnahmen wird weiter unten eingegangen. Statt Reimen wird – wie typisch für Wagner – mit Assonanzen gearbeitet, sodass in der ersten Strophe „ruhig“ (V. 1) [ʁuɪç] und „rauch“ (V. 4) [ʁaʊx], „tiere“ (V.2) und „trieren“ (V. 3) als Klangäquivalente zu lesen sind, die das „Reim“schema bilden.

In der ersten Strophe wird die Wildnis des Riesengebirges (vgl. Titel; „schreiberhau“ und „krummhübel“ in Strophe 2 verweisen auf den Schauplatz) beschrieben. Der Sprecher befindet sich in einem „ruhigen Wald“ (V. 1 f.), „tiere“ (V. 2) figurieren als dessen Augen: Es ist ein großes, symbiotisches Lebewesen. Das archetypische Bild des mystischen Waldes wird heraufbeschworen, in dem einerseits die ‚Natur‘ im Einklang mit sich ist, sie gleichzeitig aber ein Gegenüber darstellt, das den Sprecher beobachtet, der also nicht Teil jener Welt ist. Im dritten Vers tritt zum ersten Mal ein Störmoment auf: das Verb „infiltrieren“. Als Fremdwort ist es ein Beispiel für die zahlreichen metapoetischen Elemente im Gedicht, die dasjenige „malen“, was die Worte beschreiben: das Fremdwort „infiltrieren“ infiltriert selbst die scheinbar natürliche Szenerie und bricht mit der bisherigen Bildsprache, auch wenn es natürliche Phänomene wie „bäche“ sind, die hier die „dämmerung“ (V. 4) infiltrieren. Gerade die Dämmerung, das Zwielicht ist als Beleuchtung des Gedichts kein Zufall (s. u.). Ein weiteres Störmoment ist der „pfeifenrauch“ in Vers 4. Er verweist zum ersten Mal konkret auf Menschen, auf Kultur, auf Zivilisation. Dessen „au“-Laut eröffnet eine Reihe von Wörtern, die gleichsam den Weg in Zivilisation und Vertrautheit (V. 10), den der Sprecher im Gedicht vollführt, begleiten und abbilden: im fünften Vers „schreiberhau“, eine Stadt; das „gewitterschauer“ (V. 7 f.) gehört nicht hierher; dann wieder „vertrauten“ (V. 10) und schließlich der „haufen“ (V. 13) von Zuckerrüben, Symbol der Landwirtschaft, menschlicher Naturbeherrschung.

Die zweite Strophe fällt ein zweierlei Hinsicht aus dem Schema des restlichen Gedichts. Während die Terzette das Reimschema e-f-g-e-f-g aufweisen und einander somit spiegeln, spiegelt das zweite Quartett das erste weder in seiner „Reim“struktur noch in seiner „Reim“qualität: zwar übernimmt das „au“ von „schreiberhau“ (V. 5) den au-Laut von „rauch“ in Vers 4; das bedeutet aber nicht, dass es die Assonanz der ersten Strophe übernimmt. Diese bestünde nämlich in dem Schema (r) + Diphthong + ch-Laut. Stattdessen wird ein neues Reimschema introduziert, das nur aus dem Diphthong „au“ besteht. „äst“ (V. 6) und „sekt“ (V. 8) haben darüber hinaus nichts mit „tiere“ / „trieren“ aus der ersten Strophe zu tun. Neben dem Abweichen vom Klang ordnet die zweite Strophe seine Assonanzen auch völlig anders: In der ersten Strophe haben wir es mit einem umarmenden „Reim“ zu tun (a-b-b-a), in der zweiten mit einem Kreuz„reim“ (c-d-c-d).

Ein zweiter Bruch offenbart sich im Metrum. Während die erste Strophe (und im Grunde auch alle anderen) einem mehr oder weniger regelmäßig alternierenden Rhythmus folgen, herrscht in der zweiten Strophe zunächst ein metrisches Chaos: Ein Hebungsprall zwischen „auf“ und „jenseits“, dreigliedrige statt zweigliedriger Versfüße und im sechsten Vers gerade einmal drei Hebungen statt der sonstigen fünf. Warum dieses Chaos? Abermals wird mit rhetorischen Mitteln der Inhalt wiedergegeben: „nebel steigt auf“ (V. 5). Die Trübung des Metrums und des Reimschemas korrespondiert mit der Trübung der Sicht des Sprechers.

Der Hebungsprall zwischen „auf“ und „jenseits“  unterstreicht dabei die (scheinbar) strikte Trennung, die hier zwischen der totalen Andersartigkeit („jenseits“ ) der Natur (erste Strophe: Wald) und Kultur („schreiberhau“ und „krummhübel“ sind die zwei größten Städte im Riesengebirge) behauptet wird. Am Ende der Strophe vollzieht sich jedoch wieder eine Annäherung (wie sich auch das Metrum wieder stabilisiert): Die Abendsonne spiegelt sich als „winziges insekt“ (V. 8) in Regentropfen, das Anorganische wird organisch metaphorisiert, der Makrokosmos, der große Stern, spiegelt sich als kleines Insekt im Mikrokosmos eines Regentropfens. Sogar die Sonne wird winzig in den Schatten des Riesengebirges, fügt sich in dessen zauberhafte Ordnung.

Im ersten Terzett erreicht der Sprecher „endlich die vertrauten / silhouetten der getreidesilos“ (V. 10 f.), mithin die Zivilisation. Diese wird allerdings von der Natur überschattet. Wie die „schatten der berge“ (V. 9 f.) sich über die Zivilisation strecken, streckt sich eine gewisse Lautfolge tief in das Land der Menschen: „schatten“ (V. 9) – „strecken“ (V. 10) – „silhouetten“ (V. 11) – „schädelstätte“ (V. 12): nicht nur Wörter wie „schatten“, „silhouette“ oder „schädelstätte“ präfigurieren den unheimlichen „ungeheuren“ Zuckerrübenhaufen am Schluss; bereits der Klang stiftet einen suggestiven Zusammenhang zwischen den beiden Terzetten, der die Ankunft des Sprechers  in der „vertrauten“ Zivilisation zwielichtig überschattet. Die „silhouetten“ konterkarieren dabei ihr Attribut („vertraut“): Anaphorisch und inhaltlich korrespondieren sie mit den „silos“, dem Symbol von Landwirtschaft, also menschlicher Naturbeherrschung und Zivilisation. Auch durch ihre Herkunft aus dem Französischen schwingt eine gewisse Kultivierung mit. Gleichzeitig sind Silhouetten schattenhafte Umrisse, keineswegs vertraueneinflößend und immer noch ein schwieriges Fremdwort, was die Assoziation von Kultivierung austariert; es ist, genau wie „infiltrieren“, ein metapoetisches Wort, das hier die mulmige, unentschiedene Stimmung des Sprechers wiedergibt, als er das „dorf erkennt“ (V. 12).

Die Schädelstätte, mit welcher der „haufen von zuckerrüben“ (V. 13 f.) im letzten Terzett verglichen wird, verweist auf Kalvarienberge. „Schädelstätte“ ist die deutsche Übersetzung von „Golgatha“, dem Ort, an dem Jesus Christus gekreuzigt worden sein soll. Kalvarienberge (lat. „calva“, „Schädel“) sind Nachbildungen der Kreuzigungsgruppe; in der Nähe des Riesengebirges findet man sie beispielsweise in Wambierzyce oder auf dem St. Annaberg. Die Evokation der Kreuzigungsgruppe wird abermals rhetorisch durch eine Chiasmus, eine „Überkreuzung“ von zwei klanglichen Elementen unterstrichen: dem „trüben acker“ aus Vers 13 stehen die „zuckerrüben“ in Vers 14 gegenüber, wobei „-üben-“ und „-Vcker“ in der jeweiligen Phrase ihre Position tauschen.

Natürlich zielt das Bild der „Schädelstätte“, mit der ein Haufen weißer Zuckerrüben hier verglichen wird, eher auf einen veritablen Haufen weißer Schädel denn auf die Kreuzigungsgruppe und pointiert damit das „Ungeheure“ (V. 14). Trotzdem ist auch die Anspielung auf den Kalvarienberg gerechtfertigt: Mit ihm öffnet sich eine mythische Dimension in der Banalität eines Haufens von Zuckerrüben, die natürlich durch die Anspielung auf das titelgebende Berggespenst Rübezahl („ungeheuer, zahllos“) bestätigt wird. Jenes „zahllos“ verweist dabei zurück auf den Anfang des Gedichts, die zahllosen „bäume um bäume“: Entweder ein Eindruck, den der Sprecher unterbewusst aus der Wildnis mitgebracht hat oder eine Anspielung darauf, dass der Mythos im Riesengebirge scheinbar immer präsent ist, ein ewiger Schatten, der auch die Siedlungen des Menschen durchdringt. Die Zivilisation erscheint im Gedicht überhaupt als schattenhaft und illusorisch („pfeifenrauch“, „silhouette“, „trüb“). Hinter allem lauert der Mythos, der den nüchtern auf- und erzählenden Logos jederzeit überwinden kann („ungeheuer, zahllos“ verweist eben auf die Überwältigung der logischen Ordnung). Diese Opposition von Natur und Kultur, Mythos und Logos wird übrigens schon in der ersten Strophe, in dem ersten Paar von Assonanzen angedeutet: „ruhig“ ist das Attribut des Waldes, „rauch“ ist als „pfeifenrauch“ ein Verweis auf die Kultur. Die beiden ch-Laute [ç] und [x], die hier jeweils einer Seite dieser Opposition zugeordnet werden, können im Deutschen niemals an derselben Stelle auftauchen – sie schließen einander aus.

Andererseits heißt das Prinzip, nach dem im Deutschen diese beiden Laute verteilt werden, in der Sprachwissenschaft „komplementäre“ – also ergänzende – „Distribution“. Die beiden ch-Laute ergänzen einander und erleichtern das Sprechen (vielleicht nicht für Nicht-Muttersprachler, aber zumindest in der Theorie). Genauso könnte man die beiden Pole von Kultur und Natur, Logos und Mythos als sich ergänzende Prinzipien im Gedicht deuten. Sie gehen in der Dämmerstimmung des Gedichts ständig ineinander über; wo in klassischen Sonetten zwischen Quartetten und Terzetten ein klarer Bruch herrschen soll, schlängelt sich in Wagners Version ein einziger, langer Satz und verbindet die beiden Teile, verbindet „wald“ und „getreidesilos“. Die zahlreichen klanglichen Mittel, sozusagen das mythische Prinzip der Sprache, ergänzen, wie gezeigt wurde, hervorragend das „logische“, buchstäbliche, narrative Prinzip in „rübezahl“. Mit großartiger handwerklicher Finesse überblendet Wagner beides und schmiedet ein Kolorit, das nur so strotzt vor schummrigen Suggestionen.

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