Übersetzung Prosa

Gyrðir Elíasson [IS]: Hand auf Glas

Wir hatten uns alle bereits zum Schlafen gelegt an diesem Augustabend. Es war fast dunkel und Wolken schlichen wie Schatten um die Berge. Von der Wiese strömte der Geruch gemähten Grases herein. Ich hörte, wie der Hund einmal bellte, seltsam grimmig, in der Nische bei der Haustür, wo er lag. Dann verstummte er und man hörte nichts außer dem Rauschen des Flusses, das immer da war, aber ich lauschte nie darauf, außer beim Einschlafen.

„Mach die Lampe an“, sagte meine Schwester, die neun Jahre alt war.

„Nein“, sagte ich mit der Autorität der älteren Schwester. „Du solltest jetzt langsam schlafen.“

„Ich kann nicht schlafen“, quengelte unser kleiner Bruder, fünf Jahre. Wir lagen alle zusammen in dem breiten Bett, die Federn in der Matratze hatten nachgelassen und wir sanken in die Matratze, obwohl wir nicht schwer waren.

„Lausch dem Rauschen des Flusses“, sagte ich zu ihm.

„Ich will es nicht hören“, sagte er.

Aber wir schlossen alle die Augen und versuchten, einzuschlafen.

Das Mehlsackleinen, das auf Nägel in den äußersten Ecken des Fensters gespannt war, warf eine Art Gräue ins Zimmer, die ich unangenehm fand, wenn ich hin und wieder die Augen öffnete. Die Zeit verging. Bei den Gräben auf der Wiese hörte ich einen Regenbrachvogel verschlafen singen.

Ich war einsam.

Den ganzen Sommer war kaum jemand hierher gekommen und ich hatte meine Geschwister satt, die jünger waren als ich und dümmer.

Jetzt hörte ich an ihren Atemzügen, dass sie beide eingeschlafen waren. Ich wusste, dass sich die Hühner auf ihren Stangen zusammenschmusten draußen im Hühnerhaus und die Kühe im Stall in ihren Boxen schlummerten. Wir hatten keine Pferde, aber ich hatte mir immer ein Pferd gewünscht. Papa sagte, dass Pferde nur Probleme machten, aber ich wusste nicht, was er damit meinte.

Dann hörte ich auf einmal ein merkwürdiges Geräusch auf dem Glas. Es war fast ein Quietschen, als ob eine Hand mit langen Nägeln über die Scheibe geschleift würde und dieses Geräusch wiederholte sich einige Male. Ich schaute auf zum halbdunklen Fenster und glaubte zu sehen, wie sich eine Hand hinter dem Leinen abzeichnete. Sie wurde von der rechten oberen Ecke bis zur unteren linken gezogen. Dann wechselte der Handschatten die Seite und zog eine Linie von der linken oberen Ecke bis zur rechten unteren. Ich stieß meine Schwester Anna an, aber mein Bruder schlief so fest, dass es müßig war, ihn aufwecken zu wollen. Anna erwachte sofort und ich legte einen Finger auf die Lippen, bedeutete ihr, zu lauschen. Wieder wurde die Hand mit einem Quietschen über das Glas gezogen, ganz langsam dieses Mal. Anna war vollkommen gelähmt und sie schien in der Matratze versinken zu wollen. Es war jetzt, als würden nicht mehr die Nägel, sondern feuchte Fingerkuppen über die Scheibe gezogen. Ich habe dieses Geräusch nie vergessen (obwohl es jetzt Jahrzehnte her ist). Etwas unendlich Trauriges war in diesem Geräusch, als die feuchten Fingerkuppen das Glas heruntergedrückt wurden. Ich schaute vor mich hin auf das Fenster und sah, wie sich die Hand immer noch abzeichnete. Ich sah auch den Schatten der Nägel, oder glaubte zumindest, sie zu sehen. Sie erinnerten an Klauen.

Anna hatte sich die Decke über den Kopf gezogen und regte sich nicht. Ich merkte allerdings, wie sie unter der Decke zitterte. Ich hörte den Hund ein zweites Mal grimmig bellen, aber am Bellen konnte ich erkennen, dass er sich nicht von seinem gewöhnlichen Schlafplatz in der Türnische fortbewegt hatte.

Das Rauschen des Flusses hörte ich nicht mehr.

Ich schaute wieder auf das Fenster. Die Hand lag still auf dem Glas, flach ausgebreitet. Ich sah diese langen, gespreizten Finger und dachte an eine Tarantel, die auf ihre Beute wartet. Ich erhob mich ganz leise und langsam aus dem Bett, ging gebeugt aus dem offenen Zimmer zu Mamas und Papas Zimmer auf der anderen Seite des Hauses. Ich öffnete leise die Tür. Sie waren noch nicht eingeschlafen, aber sie taten etwas, bei dem man sie ganz bestimmt nicht stören durfte und ich zog die Tür langsam wieder zu.

Ich ging zurück zur Türöffnung unseres Zimmers und spähte vom Türpfosten aus hinein, in Richtung Fenster. Der Schatten der Hand war nicht mehr sichtbar hinter dem Leinen des Pillsbury‘s-Sacks. Ich hörte auch nichts mehr, außer, doch, das Rauschen des Flusses war wiedergekehrt. Ich fand es jetzt beinahe unbehaglich laut. Als ob dieser kleine und ruhige Fluss nun angeschwollen über verborgene Klippen flutete.

Ich schlüpfte langsam ins Bett, kroch unter die Decke und deckte mich bis zum Kopf zu, deckte auch Anna zu, die immer noch dalag und schwer atmete.

„Bist du wach?“, fragte ich leise.

„Ja“, antwortete sie.

„Was war das?“, fragte ich.

„Weiß nicht“, sagte sie. Ich hörte ein Schluchzen in ihrer Stimme und umfasste ihren Arm.

„Wir sollten einfach schlafen“, sagte ich.

Sie nickte.

„Lass uns dem Fluss lauschen.“

„Er ist jetzt so laut“, sagte Anna.

„Das stimmt“, antwortete ich.

„Warum ist er so laut?“

„Ich weiß es nicht“, sagte ich. „Vielleicht hat er es eilig, ins Meer zu kommen.“


(c) Johannes Jansson

Gyrðir Elíasson (*1961) ist einer der bedeutendsten isländischen Gegenwartsautoren. Er machte sich zunächst einen Namen als Lyriker, bevor er Ende der 80er begann, Kurzgeschichten und Romane zu schreiben. In seinem Werk dominiert das Geheimnisvolle und Verborgene, das mal surrealistisch beschrieben wird, mal die scheinbar gewöhnliche Alltagswelt infiltriert. „Hand auf Glas“ („Hönd á gleri“) stammt aus der 2009 erschienenen Kurzgeschichtensammlung Milli trjánna (Zwischen den Bäumen), für die er 2011 den prestigeträchtigen Literaturpreis des Nordischen Rates erhielt.

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