Zapffen

230421|Zapffe: Jesus und der Survivorship Bias

„Es ist notwendig, hier das Moment der Zufälligkeit hervorzuheben. In jedem Fall wird es sich zeigen, ob das Treffen zwischen der Ausstattung eines Individuums und der ihm zugewiesenen Umwelt lebensbedingend ist oder nicht. Wenn es nicht lebensbedingend ist, verschwindet das Individuum für immer aus der Geschichte des Lebens, löst sich in Teile auf, die selbst nicht Interesseträger sind, kehrt zum Ausgangspunkt zurück und wird indifferenter Rohstoff für neue Interesseträger, vielleicht eine andere Tierart. Schon Jesus von Nazareth war sich über dieses Gesetz des Zufalls im Klaren, über den Mangel einer ordnenden Übersicht, eines ökonomischen Prinzips, einer Garantie für Sinn und Aufgabe für jeden einfachen Keim, darüber, dass der rohste Zufall und nicht bloß die Qualität eines Keims ausschlaggebend für dessen weiteres Schicksal ist, dass viele berufen, aber nur wenige auserwählt sind: Ein Sämann ging aus zu säen. Und es begab sich, indem er säte, fiel etliches an den Weg; da kamen die Vögel und fraßen’s auf. Die Vögel müssen auch leben, aber die Körner, die sie aufpicken, müssen deshalb noch keine Sprießkraft haben. Und niemand hat dafür Sorge getragen, dass die beste Saat in die fette Erde gefallen ist. Wenn wir im Nachhinein ihre hundertfache Frucht bewundern, ist es bloß eine Minderheit, die wir bewundern. So sind die irdischen Verhältnisse beschafften: Dass die Lebensentfaltung entweder bewunderungswürdig ist oder es überhaupt kein Leben gibt. Die kompromittierenden Fehler liegen in fossilen Schichten verborgen.“

Peter Wessel Zapffe, Über das Tragische (1941)

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