
Anna Mayrs Die Elenden, erschienen August 2020 im Hanser-Verlag, ist ein ernüchterndes Buch und das meine ich (vor allem) positiv. Mit einer Mischung aus persönlichen Erfahrungen und Anekdoten einerseits und fundierten Analysen und historischen Rekonstruktionen andererseits seziert die 1993 geborene Journalistin das Phänomen der Arbeitslosigkeit in Deutschland aus (vor allem) soziokultureller Perspektive.
In jedem der sieben Kapitel des Buches wird ein ideologisches Knäuel aufgedröselt, etwa „Warum uns die Arbeitslosen unheimlich sein müssen“ oder „Warum der Aufstieg kein Ausweis einer gerechten Gesellschaft ist“. So entlarvt Mayr das Narrativ vom sozialen Aufsteiger als zynisches Machtinstrument der Oberschicht: Es ist einfacher, den Anspruch der Armen (für die Mayr im Buch bewusst diesen Begriff gebraucht) auf ein besseres Leben mit „Chancen“ zu sedieren, die wenigen Aufsteiger ins Rampenlicht zu rücken und die vielen Gescheiterten „selbst schuld“ sein zu lassen, als ihnen tatsächlich umfassend zu helfen: „Diese Haltung ist nichts als eine Entschuldigung der Menschen, die über das Schicksal der armen Kinder entscheiden. Für diese Menschen wäre eine systematische Ermöglichung von Aufstieg zu aufwändig und zu teuer – und dann müsste man anerkennen, dass aufgrund der Ungerechtigkeit in unserer Gesellschaft Tausende Kinder zurückbleiben, die ohne soziales und kulturelles Kapital aufwachsen und ohne ein Umfeld, das ihnen die Hand reicht“ (S. 128).
Wie hier deutlich wird, betrachtet Mayr Arbeitslosigkeit von Anfang an aus einem systemischen Winkel: „Die Sache ist: Unsere Lebensgeschichten gehören uns nicht allein. Sie finden innerhalb eines Systems statt, das bestimmte individuelle Geschichten braucht, um als Ganzes zu funktionieren“ (S. 15). Die prophylaktische Selbstdämpfung, dass dem systemischen Ansatz „immer ein[] Nachklang von naiv linkem Weltverbessererquatsch“ (ebd.) anhafte, zaubert ebendiesen Nachklang bei der Lektüre allerdings noch nicht aus dem Ohr. Das größte Manko von Mayrs Analyse ist ihr hyperideologischer Blick: Hinter allen Malaisen der Welt scheint sich ein Komplott des „Rests der Gesellschaft“, der Arbeitenden und vor allem der Reichen, zu verbergen, nur um Arme und Arbeitslose zu stigmatisieren und unten zu halten. Beispielsweise wenn Mayr „Obst, Gemüse und Vollkornprodukte“ kategorisch zu „Reiche-Leute-Essen“ macht und Jamie Olivers Kampagne gegen ungesundes Schulessen allein als Kreuzzug gegen den „Geschmack der Armen“ sieht, die „durch den Brokkoli als Abweichung vom System markiert“ werden sollen (S. 96). Oder wenn die Forderung nach weniger Konsum im Kontext des Klimawandeldiskurses als Benachteiligung der Armen skeptisch beäugt wird – als ob Konsumreduzierung in erster Linie gepredigt würde, um arme Menschen weiter zu erniedrigen und nicht eine ökologische Notwendigkeit gegen (westlichen) Überkonsum darstellt (S. 177 ff.). (Dass Verzicht erstmal Besitz voraussetzt, auf den man verzichten kann, ist natürlich ein richtiger und wichtiger Punkt. Wenn es um kulturelle Aspekte unserer Nachhaltigkeitsheuchelei geht, zeigt Mayr ein treffsicheres kritisches Gespür).
Solche Bröckchen vergällen aber nicht die ganze Suppe. Denn im Großen zeichnet die Autorin ein nachvollziehbares, ernüchterndes und bedenkliches Panorama der Entwicklung von Arbeitslosigkeit seit den 90er Jahren in Deutschland, die besonders mit dem Hartz-IV-Gesetz von 2005 an Brisanz gewann. Arbeitslose dienen in kultureller Hinsicht als „Negativ“ (S. 50) und als Negativbeispiel für Arbeitende, von denen diese sich abgrenzen und damit ihr Selbstbild umgrenzen können und die sie gleichzeitig anhalten sollen, weiterzuarbeiten, sich nicht gehen zu lassen. Arbeitslose sind die Verkörperung der Sinnlosigkeit, die der Arbeit im Kielwasser der protestantischen Arbeitsethik erst den Anstrich von Sinnhaftigkeit geben: „Wenn eine Sache sinnlos ist, dann wird ihr Gegenteil sinnvoll und richtig. Wer nicht arbeitet, dessen Leben ist sinnlos. Wer nicht arbeitet, der ist nichts, denn er hat ja keinen Beruf“ (S. 55). Mehr noch: Nach Sündenbockprinzip projizieren wir unsere Ängste vor Abstieg, Elend und Scheitern auf eine Gruppe von Menschen, von denen wir uns dann abgrenzen können, die sich – verstärkt durch mediale Klischeeisierung – als „Arbeitslose“ gleichsam essentiell von „uns Arbeitenden“ unterscheiden: ein soziales Angstventil (S. 83). Daneben haben Arbeitslose aber auch ganz praktisch den Zweck, der „Wirtschaft“ – und das heißt den Besitzenden in dieser „Wirtschaft“ – nach deren Konditionen zu Diensten sein zu müssen: Sie existieren, „[d]amit es ein paar Doofe gibt, die auf Abruf günstig bereitstehen“ (S. 37).
Mayr gibt sich Mühe, nach 170 Seiten düsterer Zergliederung einen hoffnungsschimmernden Epilog nachzuliefern. Das bedingungslose Grundeinkommen hat hier keinen Platz, denn statt gesellschaftliche Ungleichheit aufzuheben, wie wirkliche sozialstaatliche Umverteilung das täte, diene das BGE vor allem dazu, die Mittelschicht nicht allzu neidisch zu machen, wenn Arbeitslose auch mal etwas bekämen (S. 174 ff.). Mayr setzt vielmehr auf gerechte Wut: „Was wir auf jeden Fall brauchen, ist Wut. Wut anstelle von Angst“ (S. 185). Die immer empörender werdende Ungleichheit müsse langsam in Empörung im ursprünglichen Sinne umschlagen, statt weiter aufgrund hausgemachter Abstiegsängste nach unten zu treten, in den hausgemachten Abgrund. Begriffe wie „Leistung“, „Bildung“ (der Deutschen liebste Panazee) und „Chance“ müssen entmystifiziert werden; denn gegen Armut helfe nur „mehr Geld“ (S. 191). Dabei blendet Mayr die Realität nicht aus. Nicht friedliche Revolutionen, sondern immer nur Katastrophen wie Seuchen – hört die Signale! – oder Kriege (S. 183 f.) haben historisch als Katalysatoren wirtschaftlicher Umverteilung gewirkt. Vielleicht lässt dieses Mal ja beides verbinden.
Insofern empfehle ich Die Elenden als Empörungskatalysator, aber viel mehr noch, um etwa den eigenen Vorurteilen gegenüber Arbeitslosigkeit zu begegnen, um sich bewusst zu machen, dass Arbeitgeber eigentlich Arbeitnehmende und Arbeitnehmer eigentlich Arbeitgebende sind, wie Mayr herausstellt, oder um Arbeitslosigkeit in ihrer kulturell-politischen Gewolltheit begreifen und ablehnen zu lernen.